Vor dir brauch ich meine Maske nicht

Der Song „Maske“ von Peter Pux ist zwar dieses Jahr erschienen – er bezieht sich jedoch nicht wortwörtlich auf unsere neuen, ständigen Begleiter im Alltag, mit denen wir andere vor dem Virus schützen sollen, sondern beschreibt die bedingungslose Akzeptanz des Gegenübers in einer Beziehung, bei der alle Stärken und Schwächen angenommen werden und bei der man den anderen so sieht, wie er wirklich ist.

Als ich den Song das erste mal vor ein paar Tagen gehört habe, ließ mich die Textzeile „Vor dir brauch ich meine Maske nicht“ aber nicht an die oben genannte Liebesbotschaft denken. Meine erste Assoziation unter den aktuellen Umständen war eben doch die wörtlichste aller Interpretationen: Wenn ich nach Hause komme und dich sehe, dann kann ich meinen Mundnasenschutz endlich abnehmen, weil wir beide im selben Haushalt wohnen. Die letzten Monate hatte ich ständig das Gefühl, dass mich dieser Schutzgegenstand doch irgendwie von den anderen Menschen trennt, denen ich im Supermarkt oder in der Bahn begegne. Alle halten großen Abstand, keiner spricht mehr miteinander (man versteht sich ja durch die Maske sowieso sehr schlecht) und ein Lächeln ist auch nicht mehr so leicht ausgetauscht. Die anderen Menschen werden mir immer fremder und ich kann/möchte immer weniger unter Menschen sein.

Aber da bist eben auch du – zu Hause, wo ich die Maske abnehmen kann, wo ich lächeln kann und verstehe, was du sagst. Vor dir brauch ich meine Maske nicht. Während ich mich zum Wohle aller von den anderen distanzieren muss, komme ich immer näher zu dir. Wie eine Superheldin, die ihre Maskierung nur vor der Person, der sie am meisten vertraut, abnehmen kann.

Und so schwer diese Pandemie für uns alle an manchen Tagen vielleicht zu ertragen ist, so schön ist es auch, wie nah wir unseren engsten Vertrauten (wieder) kommen und wie sehr sie uns zusammenschweißt.
Also nehme ich meine Maske nur zu Hause vor dir ab und sage Danke.

7 gegen Langeweile (Episode 3)

Seit zwei Wochen leben wir im neuen Lockdown light und damit man sich nicht 24/7 langweilen und die eigenen Tränen an den Unmengen Klopapier, die man gehortet hat, trocknen muss, gab es an den letzten sowie an den kommenden Sonntagen jeweils 7 Tipps (einen für jeden Tag) gegen die Langeweile aus den Bereichen Filmen, Bücher/Comics, (Brett)Spiele & Podcasts.

Also, machen wir es wie die Menschen aus Boccaccios „Decamerone“, die sich vor der grassierenden Pest in den Schutz eines Landhauses zurückziehen und bis zum Ende der Krankheit ausharren, während sie einander Geschichten erzählen. Nur dass wir uns in diesem Fall die Geschichten lieber erzählen lassen – von den sieben besten Videospielen:

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Monkey Island 1+2 (Point-and-Click, Scumm, 1990/1991)
Vorsicht, hinter dir – ein dreiköpfiger Affe! Keine Liste der besten Videospiele ohne ein Point-and-Click-Adventure aus der Schmiede von LucasArts! Zugegeben: Es fiel mir nicht leicht, zwischen den vielen guten Pixel-Adventures von LucasArts oder anderen Studios (wie z.B. Simon the Sorcerer, Maniac Mansion, Sam‘n‘Max oder Day of the Tentacle) abzuwägen, aber der Pokal geht dann letzten Endes doch an unseren liebenswerten Piraten Guybrush Threepwood, der zehn Minuten lang die Luft unter Wasser anhalten kann und in Gegenwart von Elaine Marley stets seine Ausdrucksfähigkeit verliert.
Aber worum geht‘s in diesen Pixelparadiesen fürs Auge? Teil 1, The Secret of Monkey Island: Der junge Guybrush möchte auf Melée Island Pirat werden und erfährt schnell, dass er hierfür lediglich drei klassische Piraten-Prüfungen bestehen muss: Stehlen, Kämpfen und einen Schatz finden. Auf dem Weg zu seinem Piratendiplom grätschen ihm jedoch nicht nur seine romantischen Gefühle für die junge Gouverneurin Elaine Marley, sondern auch der gruselige Geisterpirat LeChuck dazwischen, sodass seine Abenteuer einige Um- und Abwege mit sich bringen (inklusive kannibalischer Inselbewohner, Malzbier und eben auch einem dreiköpfigen Affen).
Teil 2, Monkey Island 2 – LeChuck‘s Revenge: Eigentlich ist Guybrush nur auf der Suche nach dem sagenumwobenen Schatz „Big Whoop“, als es einem ehemaligen Gehilfen von LeChuck durch einen blöden Umstand gelingt, den totgeglaubten Geisterpiraten wiederzubeleben (retrospektiv lassen sich einige Parallelen zur Wiedergeburt von Lord Voldemort durch seinen Gehilfen Wurmschwanz in Harry Potter and Goblet of Fire nicht verleugnen). Und so muss sich Guybrush erneut in die Schatzsuche und in den Kampf gegen LeChuck werfen.
Die Spiele sind Kult, also wundert euch nicht, wenn euch schon mal ein Hardcore-Fan Dinge wie „Du kämpfst wie ein dummer Bauer!“ hinterher ruft und antwortet auf die einzig richtige Weise: „Wie passend. Du kämpfst wie eine Kuh.“

Don‘t starve (Survival, iOS/Windows/PS4, 2013)
Kein Tutorial, keine Erklärung. Nur ein mysteriöser Ladebildschirm im Tim Burton-Stil, der einen schon durch seine Untertitel (etwa „Generating Wilson‘s Beard oder „Crafting a keen sense of despair“) verwirrt, noch bevor uns – bzw. Der Spielfigur Wilson – ein skurriler Mann erklärt, wir sollen schnell zusehen, dass wir etwas zu Essen finden, bevor die Nacht einbricht. Und los geht die Wanderung durch seltsame Landschaften, vorbei an kuriosen (und meist auch gefährlichen) Tieren wie den Beefalos oder Pengulls. Bereits in der ersten Nacht (oder zumindest kurz nach Start des ersten Spiels) stirbt man dann meist als unterfahrender Spieler (z.B. weil man es nicht lassen konnte, einen Beefalo zu jagen) und wird alsbald mit dem zentralen Spielprinzip vertraut gemacht: Wenn man einmal stirbt, ist der Spielstand und damit auch sämtlicher Fortschritt verloren (ein sogenannter Perma-Death in der Spielebranche), und die Welt sieht beim erneuten Versuch wortwörtlich ganz anders aus – denn hier wird wirklich alles nach dem Zufallsprinzip neu generiert, sodass es sich nicht lohnt, sich auf der Map zu merken, wo man zuletzt viele Karotten gefunden hat. Don‘t Starve hat keine Story, keine Quests – sondern nur eine Open World, die es zu erkunden gilt, und zwei ganz simple Regeln: Sammle genug zu Essen, sonst verhungerst du, und zünde bei Einbruch der Nacht immer ein Feuer an, sonst kriegen dich die Schattenmonster. Der Wiederspielwert ist ebenso hoch wie die Frustration – denn wenn man sich gerade endlich einmal eine kleine Basis aufgebaut hat und dann von den Wölfen gefressen wird, möchte man das Endgerät, auf dem man spielt, schon einmal aus dem Fenster werfen.
Dennoch: Das Spiel hat einen so eigenen Charme und bietet so viel zu entdecken (nicht nur an fiktiver Flora und Fauna ober- wie unterirdisch, sondern auch im extrem vielseitigen Crafting), dass man nicht so schnell aufgeben sollte. Insbesondere die anderen Spielfiguren, die man durch immer längeres Überleben in der Wildnis freispielen kann, machen jede Partie unterschiedlich. Und auch wenn ich das Spiel schon seit Jahren spiele, könnte ich nicht behaupten, schon alles entdeckt zu haben, was das Spiel bietet.
Mein Tipp: Mit Woodie (muss erst freigespielt werden) spielen und direkt mal ganz viele Bäume hintereinander fällen…

What remains of Edith Finch (Walking Simulator, PS4/Windows, 2017)
Viel Zeit braucht man für dieses Meisterwerk nicht – in etwa zwei Stunden hat man die Familiengeschichte um die Titelfigur bereits durchgespielt und bleibt mit ganz großer Ehrfurcht vor diesem Storytelling auf der Couch sitzen. Für klassische GamerInnen muss der Walking-Simulator erst einmal eher langweilig daherkommen, denn viel mehr als die Figur aus der Ego-Perspektive durch ihr Elternhaus zu steuern und mit dem ein oder anderen Gegenstand interagieren zu lassen, geschieht erst mal nicht. Und doch gehört What remains of Edith Finch meiner Meinung nach in jedes (digitale) Spieleregal, weil es sich an kreativen Ideen und innovativen Spielmechanismen geradezu überschlägt.
Schon in den ersten Spielminuten erfahren wir, dass diverse Familienmitglieder der Protagonistin in der Vergangenheit durch teils mysteriöse, bzw. tragische Umstände ums Leben gekommen sind und aus diesem Grunde behauptet wird, es läge ein Fluch auf der gesamten Familie. Edith ist nun auf der Suche nach der Wahrheit und kehrt in ihr längst verlassenes Elternhaus zurück, wo sie sich Raum für Raum durch die Vergangenheit ihrer Familie arbeitet und jede Todesgeschichte auf eine andere Weise erlebt. Diese Geschichten-in-der-Geschichte sind alle so unterschiedlich und gleichzeitig alle so großartig, dass es unmöglich ist, die Genialität nur durch ein Beispiel zu verdeutlichen. Aus Platzgründen möchte ich jedoch mit einem Beispiel teasern: Wenn wir Ediths Bruder Lewis bei seiner täglichen, monotonen Arbeit in einer tristen Konservenfabrik spielen, müssen wir mit dem einen Analogstick jene monotonen Tätigkeiten ausführen und gleichzeitig mit dem anderen eine Fantasiegeschichte von ihm spielen, mit der er sich das Leben schön redet. Was hier und in vielen anderen Geschichten auf der Storyebene passiert und wie clever verschiedene Perspektiven ineinander verwoben werden, ist wirklich meisterlich und sollte bestenfalls am Stück erlebt werden.
Eine kleine Warnung, bevor ihr gleich damit loslegt: Einige der Stories gehen wirklich unter die Haut und ans Herz.

Lifeline: Experiment/Whiteout (Textadventure, iOS/Android/Windows, 2016)
Ein Fremder sendet euch Nachrichten über ein Speech-to-text-device auf euer Handy und braucht eure Hilfe bei wichtigen Entscheidungen, die im schlechtesten Fall eben auch zum frühzeitigen Tod der fiktiven Figur und somit auch zu einem abrupten Ende des Textadventures führen können. Aber zum Glück alles kein Problem, man kann in jenem Fall auch bequem bis zu jeder beliebigen Entscheidung zurückspulen und den Plotfaden wieder aufgreifen.
Die größte Stärke dieses Textadventures entfaltet sich ohne Zweifel, wenn man es auf dem Smartphone spielt – denn die Nachrichten vom o.g. Fremden erscheinen wie Kurznachrichten in Echtzeit direkt auf dem Handy, selbst wenn man gerade eigentlich etwas ganz anderes macht. So entstehen spannungsgeladene Pausen für den/die SpielerIn in der Story, da manche Aktivitäten, zu denen man V geraten hat, eben nicht in einer Minute erledigt sind (wie zum Beispiel ein Helikopterwrack suchen).
Das Ausgangsszenario ist dabei folgendes: V (dieser Name steht anscheinend auf dem Anzug, den er trägt) befindet sich auf einem zugefrorenen See und scheint an akuter Amnesie zu leiden, denn er weiß nicht, wer er ist, wie er hier hin gekommen ist und wer die bewaffneten Menschen sind, die ihn jagen. Durch die Hetzjagd im Schnee, in verlassene Container oder Laboratorien steuern wir V durch unsere Entscheidungen und warten angespannt auf seine nächsten Nachrichten.
Ich will nicht zu viel vorwegnehmen – insbesondere da es einige sehr beeindruckende Twists gibt. Wer nicht glaubt, dass ein reines Textadventure so fesselnd sein kann, sollte es dringend herunterladen und spielen. Insgesamt begleitet einen Lifeline: Experiment, bzw. Whiteout für einige Tage (je nach dem wie schnell man nach Auftauchen der neusten Nachrichten reagiert und wie oft man zurückspulen musste).

Harveys neue Augen (Point-and-Click, iOS/Android/Windows, 2011)
Und direkt noch ein Point-and-Click-Titel in dieser Liste – aber immerhin noch aus dem letzten Jahrzehnt. Streng genommen ist Harveys neue Augen der Nachfolger von Edna bricht aus und auch wenn ich empfehlen würde, erst den Vorgänger zu spielen, ist es jedoch nicht unmöglich, einfach bei Harveys neue Augen einzusteigen und das Spiel genauso zu genießen. Was beide Spiele natürlich gemein haben, sind der krude Humor (ein altes Erbe der Point-and-Click-Adventures) und die skurrilen Nebenfiguren. Doch was Harveys neue Augen hier noch mal auf die Grundprinzipien von Edna bricht aus drauf setzt, ist die Ausgestaltung der – und das ist vielleicht ein Mini-Spoiler zu den ersten 15 Spielminuten – psychisch sehr fragwürdigen Protagonistin Lilli, die unangenehme Wahrheiten einfach nicht wahrhaben will (und die deswegen für uns wie für Lilli durch süße Zensurgnome auf dem Bildschirm mit pinker Farbe überpinselt werden). Ohne diese Zensur sähe der Titel sicher nicht halb so unschuldig aus und würde sicherlich auch ein anderes Zielpublikum ansprechen.
Lilli ist zum Spielstart eine harmlose, sehr schüchterne Klosterschülerin, die leider unfreiwillig den ein oder anderen tragischen Unfall zu verschulden hat. Eines Tages taucht Dr. Marcel – Ednas Gegenspieler aus dem Vorgänger – mitsamt Plüschhase Harvey auf, dem er die titelgebenden neuen Augen zur Hypnose, bzw. Therapie ungehorsamer Kinder eingesetzt hat. Der Rest des Spiels, bei dem es unter anderem das plötzliche Verschwinden von Edna aufzuklären gilt, besteht zum Großteil darin, dass wir uns als Lilli dieser Hypnose und den uns damit indoktrinierten Verboten zur Wehr setzen müssen. Die Rätsel sind hierbei nicht annähernd so vertrackt und teilweise absurd wie in den Point-and-Click-Adventures der ersten Stunde und auf alle Fälle lösbar. Das Ende ist ganz großes Kino und Dr. Freud hätte ebenfalls seinen Spaß an Harveys neuen Augen gehabt!

Inside (Jump’n‘run, iOS/Android/Windows, 2016)
Wer es gerne abgeschlossen und ohne offene Fragen mag, Finger weg! Das etwa zweistündige Inside liefert zum Abspann keine Erklärungen zu dem, was man bis dahin auf dem Bildschirm gesehen hat, und lässt den/die SpielerIn mit den eigenen Interpretationen alleine.
So muss man also selber versuchen, das mysteriöse Storypuzzle und auch die vielen Rätseln on screen zu lösen. Rätselhaft beginnt Inside bereits mit dem namenlosen kleinen Jungen, den wir in guter alter 2D-Manier von einer Bildschirmseite zur anderen steuern. Das Setting ist dabei vom ersten bis zum letzten Screen trist und düster (Wald, bzw. später ein riesiger Fabrikkomplex) und erinnert eher an dystopische Werke wie 1984 oder Brave New World. Unsere Gegenspieler sind mal gesichtslose Erwachsene, die uns mit Taschenlampen jagen, wildgewordene Schweine oder anmutig aussehende Unterwassermenschen – die Szenen, in denen wir scheitern, also gefangen werden, sind trotz ihrer einfachen Grafik stets erschütternd und unheimlich. Jedes weitere Wort über dieses – zugegebenermaßen unübliche – Jump‘n‘run-Spiel wäre zu viel gesagt!

The Walking Dead: The Game, Season 1 (Adventure, iOS/Android/Windows, 2012)
Es gab in der Vergangenheit viel Trubel um die Adventure-Reihe zu Kirkmans Comicvorlage und der gleichnamigen TV-Adaption. Ganz im Sinne des transmedialen Erzählens ergänzt das Spiel die Storyworld um die bedrohliche Zombieapokalypse durch weitere Figuren und Handlungsorte und hält KennerInnen der Comics und Serie durch Auftritte bekannter Figuren bei Laune.
Staffel 1 (bestehend aus fünf Episoden) dreht sich um Lee, der eigentlich im Gefängnis hätte sein sollen, wäre der Streifenwagen mit ihm auf dem Rücksitz nicht glücklicherweise verunglückt. Bei seinen Streifzügen durch die naheliegende Wohnsiedlung trifft er auf das wohl sympathischste Kind der Videospielgeschichte: die achtjährige Clementine, die sich nach dem Ableben ihres Babysitters in ihrem Baumhaus verschanzt hat und nun ihre Eltern, die Familie in Savannah besuchen wollten, finden möchte.
Damals, als ich das Spiel zum ersten mal gespielt habe, zogen sich diese Spielesessions gut und gerne mal bis tief in die Nacht – zum einen weil die Story so spannend ist und durch die eigenen Entscheidungen an wichtigen Sequenzen der weitere Verlauf der Handlung negativ wie positiv beeinflusst wird. Zum anderen weil man nicht in der Lage ist, zu einem selbstgewählten Zeitpunkt zu speichern, sondern immer auf das Autosave-Symbol am Bildschirmrand warten muss.
Wer Staffel 1 zum ersten mal durchspielt: Auf das Schlimmste gefasst machen…

7 gegen Langeweile (Episode 2)

Seit letztem Montag leben wir im neuen Lockdown light und damit man sich nicht 24/7 langweilen und die eigenen Tränen an den Unmengen Klopapier, die man gehortet hat, trocknen muss, gab es am letzten sowie an den kommenden zwei Sonntagen jeweils 7 Tipps (einen für jeden Tag) gegen die Langeweile aus den Bereichen Film, Bücher/Comics, (Brett)Spiele & Podcasts.

Also, machen wir es wie die Menschen aus Boccaccios „Decamerone“, die sich vor der grassierenden Pest in den Schutz eines Landhauses zurückziehen und bis zum Ende der Krankheit ausharren, während sie einander Geschichten erzählen. Nur dass wir uns in diesem Fall die Geschichten lieber erzählen lassen – von den sieben besten Büchern / Comics:

Snowpiercer Volume 1: The Escape (Jacques Lob, Benjamin Legrand, Jean-Marc Rochette, 2014 bzw. 1982)
„Across the white immensity of an eternal winter, from one end of the frozen planet to the other, there travels a train that never stops.“
Die erste Erzählbox des in schwarz-weiß gehaltenen Comics liest sich wie der Alptraum eines jeden Pendlers – für immer in (teilweise sehr enge) Zugabteile gepfercht zu sein, während die Welt draußen aufgrund einer vom Menschen herbeigeführten Umweltkatastrophe in ewiges Eis getaucht ist. Selbstverständlich befindet sich die gleichnamige Serienadaption dieses Comics seit Mitte diesen Jahres auf meiner Netflix-Watchliste und doch habe ich es noch nicht geschafft, sie zu sehen. Vielleicht war das auch genau richtig so – denn auf diese Weise habe ich völlig unvoreingenommen den Originalcomic aufgeschlagen, den ein guter Freund mir ohne Vorwarnung geschickt hat, und innerhalb eines Nachmittags verschlungen. Als ich später am selben Tag durch eine kleine Google-Suche herausfand, dass Snowpiercer eigentlich aus dem Jahr 1982 und aus Frankreich stammt, war ich doch einigermaßen überrascht (manchmal braucht ein Stoff eben einfach eine lange Zeit, um zu reifen – wie guter Whisky). Das Schöne daran: Die Allegorie auf unsere Klassengesellschaft, im Comic durch die Anordnung und Zustände der Zugabteile versinnbildlicht, funktioniert heute genauso gut wie vor fast 40 Jahren (!!!) und beweist damit mal wieder, wie allgemeingültig diese Nachricht ist. Und auch den Zeichnungen sieht man ihr Alter überhaupt nicht an – einer der vielen Vorteile grafischer Literatur im Gegensatz zum Film.
Wer also gerne noch ein bisschen mehr Endzeit-Stimmung braucht, möge hier sofort zuschlagen!

Batman: The Killing Joke (Alan Moore, 1988)
Letzte Woche habe ich diesen Comic schon beworben, weil er eine großartige Origin-Story des Jokers liefert, in der diese mysteriöse Figur mit einer plausiblen wie tragischen Hintergrundgeschichte ergänzt wird, die einem das Lächeln auf den Lippen gefrieren lässt.
Die beiden Geschichten, die hier ineinander gewoben werden (1. Der Joker flieht erneut aus dem Arkham Asylum und nimmt eine Geisel, mit der er Batman beweisen will, dass nur ein einziger schlechter Tag reicht, um einen Menschen in den Wahnsinn zu treiben. 2. Bevor der Joker zu Batmans unvorhersehbarsten Gegenspieler wurde, versucht er sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser zu halten, um seine schwangere Freundin zu unterstützen. Da seine Gehversuche in der Stand-Up-Comedy erfolglos bleiben, willigt er in ein sehr zwielichtiges Angebot ein.), sind farblich durch die extreme Entsättigung der Background-Story voneinander getrennt und trotzdem so eng miteinander verbunden, dass der Wechsel von der einen in die andere Geschichte kaum wahrgenommen wird.
Auch visuell ist das häufig so clever gemacht, dass es sich lohnt, doch noch etwas länger auf den Panels zu verweilen und jedes Detail wahrzunehmen.
And don‘t forget: It‘s all just a joke.

And then there were none (Agatha Christie, 1939)
Der Titel mag ein wenig sperrig erscheinen – aber das liegt nur daran, dass er bereits zum Zeitpunkt der Veröffentlichung in den USA angepasst wurde, weil er ursprünglich Ausdrücke benutzte, die als sehr rassistisch galten und heute noch gelten. Dies ist dem Umstand zuzuschreiben, dass die Krimi-Legende Agatha Christie sich auf einen Kinderreim bezieht (zu Deutsch etwa „Zehn kleine Negerlein“), der auf makabre Weise den Plot trägt.
Unter seltsamen Umständen werden zehn Fremde auf ein Anwesen auf Soldier Island eingeladen und am ersten Abend mit grausamen Vorwürfen gegen jeden Einzelnen konfrontiert. Ein heftiger Sturm verhindert, dass sie sofort wieder abreisen, und in den folgenden Stunden / Tagen stirbt einer nach dem anderen – immer passend zu den Kinderreimen, die in jedem Zimmer hängen.
Ein bisschen erinnert diese Grundkonfiguration an den aktuellen Online-Spiele-Hype „Among us“, denn wie in diesem Multiplayer muss es sich auch bei einer der Romanfiguren um einen Verräter handeln, wenn sonst niemand auf der Insel ist und unbemerkt umherschleicht. Wem kann man trauen, wenn auf einmal nur noch wenige Überlebende übrig sind? Wer lügt und aus welchem Grund?
Das Ende, bzw. Die Auflösung ist so überraschend wie plausibel und insbesondere ich habe mich gefragt, ob ich es nicht hätte kommen sehen müssen. Vielleicht schaffen es ja die anderen Hobby-Detektive da draußen…

Der Schrecksenmeister (Walter Moers, 2007)
Ein passenderes Buch gemäß des einleitenden Paragrafen hätte ich für diese Liste kaum finden können: „Stellt euch den krankesten Ort von ganz Zamonien vor! Eine kleine Stadt mit krummen Straßen und schiefen Häusern, über der ein schauriges schwarzes Schloss auf einem dunklen Felsen thronte. In der es die seltensten Bakterien und kuriosesten Krankheiten gab: Hirnhusten und Lebermigräne, Magenmumps und Darmschnupfen, Ohrenbrausen und Nierenverzagen.“
Aber keine Sorge, laut Cover ist Der Schrecksenmeister auch “Ein kulinarisches Märchen aus Zamonien“ – und mit Kochen beschäftigen sich in diesen Wochen ja sowieso einige (ich erinnere an den Bananenbrot-Hype aus Lockdown 1.0). Allerdings werdet ihr diese Rezepte nicht nachkochen können, es sei denn ihr habt zufällig frischen Knilschbrömen zu Hause oder wisst, wie man ein Gespenst kocht (und dafür müsst ihr wahrscheinlich erst mal vom Baum der Erkenntnuss essen).
Was so albern klingen mag, hat literarische Wurzeln und ist Walter Moers‘ clevere Überarbeitung von Gottfried Kellers Novelle „Spiegel und das Kätzchen“. Man muss die Vorlage jedoch nicht kennen, um sich an den skurrilen Figuren und den vielen Wortspielen zu erfreuen. Meine Lieblinge aus diesem Ensemble: Die verrückte Schreckse Izanuela Anazazi (bei deren Namen ich aus unerklärlichen Gründen immer innerlich „Lass die Finger von Izanuela“ à la Fettes Brot singen muss) und Fjodor F. Fjodor, der einäugige Schuhu mit einer Fremdwortschwäche.
Aber worum geht es eigentlich: Die kleine Kratze Echo lebt seit dem Tod seiner Halterin auf der Straße und ist kurz davor zu verhungern, als ihm der grausame Eißpin ein Angebot macht, das er nicht abschlagen kann: Bis zum nächsten Schrecksenmond darf Echo bei ihm leben und wird mit den köstlichsten Speisen gemästet. Dann tötet Eißpin die Kratze, um an ihr begehrtes Fett für seine alchemistischen Versuche zu kommen.
Auch wenn „Der Schrecksenmeister“ doch ein kleiner Schmöker ist – die Kapitel sind grundsätzlich in sich abgeschlossen und so kann man das Buch dann doch getrost mal nach einer Geschichte in der Geschichte zuklappen und erst später weiterlesen.
Gnorx ist sehr groß!

The Girl who loved Tom Gordon (Stephen King, 1999)
Auf der Liste der Freizeitaktivitäten steht momentan auch Wandern ganz weit oben und so manch eine/r wird sicherlich schon alle bekannteren Strecken durchs Naturschutzgebiet in der Umgebung abgelaufen haben. Wenn man eins aus Kings Roman für alle zukünftigen Touren lernen kann, dann das: Entferne dich niemals zu weit von den ausgeschriebenen Wegen, selbst wenn du nur kurz pinkeln willst. Zugegeben: Die Gefahr, sich zu verlaufen, ist hierzulande nicht so groß wie in den gigantischen National Parcs im Ausland und auch von gefährlichen Wildtierangriffen hört man nicht oft. Doch für die neunjährige Patricia verwandelt sich ein kleiner Familienausflug eben schnell in eine mehrtägige Horrortour durch dichte Wälder, wobei ihr etwas Großes, Monströses zu folgen scheint. Pfadfinder wüssten sicher beim Lesen direkt, was das Mädchen besser machen könnte, ich für meinen Teil habe an vielen Stellen gedacht: Ich wäre genauso verloren, würde aber wahrscheinlich nicht vor lauter Einsamkeit mit meinem Lieblings-Baseballer sprechen (wie es Patricia tut und woraus ebenfalls der Titel entstanden ist).
Stephen King, oder der Meister des Horrors, mag nicht jedermanns Geschmack sein. Gerade denen, die seine „abgedrehteren“ Werke nicht mochten, möchte ich mich Nachdruck The Girl who loved Tom Gordon ans Herz legen, eben weil es eine so realistische Auseinandersetzung mit einem der ältesten Themen der Menschheit darstellt: Mensch gegen Natur.

Harry Potter and the Half-Blood Prince (Joanne K. Rowling):
Zugegeben, ich habe lange mit mir gerungen, ob ich nicht einfach alle siebenBände der Harry-Potter-Reihe hier aufführe, eben weil sie einfach so großartig sind und man sie immer wieder lesen kann (und sollte). Bei jeder erneuten Re-Lektüre entdeckt man etwas Neues Altes (so wie zum Beispiel, dass das Verschwindekabinett, mit dem – ACHTUNG SPOILER – Malfoy in Band 6 die Todesser nach Hogwarts schmuggelt, bereits in Band 2 auftaucht und dort von Peeves lautstark kaputt gemacht wird, während Harry im Büro von Filch sitzt).
Warum also ausgerechnet Band 6 in dieser Auflistung? Weil Band 6 einfach die perfekte Mischung aus allen Harry-Potter-Zutaten ist: Eine ordentliche Portion Hogwarts-Schulleben (mit allen alltäglichen Eskapaden), viel Pubertäts-Teenager-Drama (wann kriegen sie sich denn endlich?), die Einführung des finalen story arcs, AKA die Horkrux-Jagd und ein wirklich traumatisierender Todesfall (auf der gleichen Stufe wie der erste markerschütternde Tod in Game of Thrones).
Expelliarmus!

QualityLand (Marc-Uwe Kling, 2017)
Gemäß des in QualityLand vorherrschenden Sprachgebrauchs müsste ich jetzt sagen, es ist kein gutes Buch, sondern das beste, und dass euch allen sofort über The Shop ein Exemplar geschickt wird.
Ich kenne einige dystopische Romane, die ein sehr düsteres Bild unserer Zukunft entwerfen, und dieses Werk von meinem liebsten Kleingärtner, ähhh, Kleinkünstler ist vielleicht die realistischste Version, die in den nächsten Jahrzehnten eintreffen könnte.
Peter Arbeitsloser, unser erfolgloser dystopischer Held, gerät durch einen Zufall – ihm wird ein Artikel über The Shop geliefert, den er nicht nur nicht bestellt hat (denn das muss man in der Konsumgesellschaft der Zukunft sowieso nicht mehr eigenständig tun, weil man aufgrund seines Kaufprofils ungefragt Produkte geschickt bekommt), sondern den er auch tatsächlich nicht will. Hier beginnt seine Odyssee durch eine undurchsichtige Bürokratie und digitale Welt, in der unsere Realität davon bestimmt wird, welche Daten wir über uns in den sozialen Netzwerken preisgeben und welche umgekehrt dazu genutzt werden, uns als Konsumenten zu definieren.
QualityLand ist deutlich anders als die Bücher der Känguru-Reihe (nicht nur durch den fortlaufenden Plot) und doch werden sich auch Freunde des anarchistischen Kängurus über zahlreiche Seitenhiebe und Nebenauftritte des vorlauten Beuteltiers freuen. Was nicht heißen soll, dass diese Buchempfehlung nur etwas für Känguru-Fans wäre.
Und dann ist ja auch noch kürzlich QualityLand 2.0 erschienen…