„Das Pferd wurde komplett zerritten“

Als meine Freundin zu mir ins Büro kam und mir von den „tragischen Ereignissen“ im modernen Fünfkampf bei Olympia berichtete, kommentierte ich den mündlichen Bericht mit: „Mir tut das Pferd weit mehr leid als die Athletin.“

Später sah ich kurze Zusammenschnitte des Geschehens und zahlreiche Kommentare auf den „sozialen“ Netzwerken – im Großteil emotional aufgeladene Vorwürfe der Tierquälerei. Im Prinzip alles ähnliche Bedenken wie jene, die ich in meiner ersten Reaktion zum Ausdruck gebracht habe, doch im Internet extrem zielgerichtet und mit enorm viel Hass fehlgeleitet, nämlich auf eine individuelle Reiterin, die das Pech hatte, als Zweite mit dem gestressten Pferd Saint Boy antreten zu müssen.

Wenn ich Beiträge auf Twitter lese, die Annika Schleu vorwerfen, eine Tierquälerin zu sein, dann frage ich mich, ob die Menschen das Gleiche auf den Bildschirmen gesehen haben wie ich. Offenbar nicht, denn ich habe keine Täterin gesehen, die ihr Opfer misshandelt, sondern zwei Opfer eines sportlichen Wettkampfs, dessen Reglement das Tierwohl ganz eindeutig in den Hintergrund stellt und aus der dritten Disziplin eine Lotterie macht. Dass Annika Schleu selbst ein Opfer der bizarren Regeln dieses Wettkampfs ist, sieht man besonders deutlich daran, dass ihre verzweifelten Blicke immer wieder nach ihrer Trainerin am Rand suchen. Als Antwort erhält sie genau ein einziges Kommando, dies aber wiederholt und mit Nachdruck: „Hau drauf!“ Wenn der Mensch vor Enttäuschung, Angst und Verzweiflung nicht mehr weiter weiß, bleibt Gewalt eben offenbar nach wie vor die naheliegende Antwort – das war schon immer ein besonderer Schandfleck in unserer Natur. Wie einig sich Saint Boy und Annika Schleu in ihrer Verzweiflung und ihrer Panik sind, ist dabei fast schon tragisch und poetisch zugleich und zeigt deutlich, wie abhängig Pferd und ReiterIn voneinander sind.

Ich würde niemals so weit gehen, Annika Schleu als Tierquälerin zu bezeichnen. Ich habe in den fünf Minuten nichts gesehen, das in meinen Augen darauf hinweisen würde, dass sie das Tierwohl missachtet. Ohne selbst große Erfahrungen im Reitsport zu haben, kann ich nachvollziehen, dass man ein fremdes Pferd sicherlich leider nicht ohne Hilfsmittel wie die Gerte einreiten und auch nicht in Zaum halten kann. Ich habe keine Athletin gesehen, die mit viel Aggression und immer wieder auf ein panisches Tier eingeschlagen hat. Ich habe eine Athletin gesehen, deren Traum und fünfjährige Vorbereitung auf eine Medaille geplatzt sind und die mit der Gesamtsituation ebenso überfordert war wie Saint Boy.

Wenn man dieses tragische Ereignis zum Anlass nehmen will – und sollte! – um über Missstände dieses Olympischen Wettkampfs zu sprechen, dann doch bitte über die Frage, ob und in welcher Form Tiere Teil dieses sportlichen Wettkampfs sein sollten und darüber, welchen Druck eine solche Situation für die AthletInnen bedeutet. Sprechen wir doch stattdessen darüber, wie es sein kann, dass ein Tierarzt das Pferd Saint Boy nach dem missglückten Ritt durch den Parcours mit der russischen Athletin außerhalb der Arena begutachtet und weiterhin für fit und ruhig genug erklärt, um ein zweites Mal geritten zu werden. Das ist gerade so, als würde ich jemanden, der auf der Bühne Angstzustände und Panik erlitten hat, hinter der Bühne fragen, ob es denn jetzt wieder ginge, und bei einer positiven Antwort umgehend wieder zurück auf die Bühne schicke. Sprechen wir außerdem darüber, wie es passieren konnte, dass in einer Sportart, die „moderner Fünfkampf“ genannt wird, Tiere derart zu Objekten und Sportgeräten degradiert wurden, dass sogar fachkundige Reporter*Innen die Reitversuche der russischen Athletin auf Saint Boy mit „Jetzt mach das Pferd bitte nicht kaputt, das Pferd muss nachher für Annika noch funktionieren“ und „Das Pferd wurde komplett zerritten“ kommentieren und dies eine Selbstverständlichkeit im Sprachgebrauch zu sein scheint.

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